Newsletter 2022/11 – Anwendbarkeit des Lebensmittelsicherheitskriteriums 1.2
der Verordnung über mikrobiologische Kriterien auf
in Verkehr gebrachte Erzeugnisse

Mit Urteil vom 30. Juni 2022 (Rechtssache C-51/21) hat der Europäische Gerichtshof eine wichtige Entscheidung zum Verständnis der Lebensmittelsicherheitskriterien im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel getroffen.

Konkret betrifft das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Lebensmittelsicherheitskriterium 1.2 nach Anhang I Kapitel 1 der genannten Verordnung.

Das Urteil schließt eine Lücke bei der Anwendung des Sicherheitskriteriums 1.2 zum pathogenen Keim Listeria monocytogenes, die in Fällen auftritt, in denen ein Lebensmittel bereits in Verkehr ist, so dass der Grenzwert „0 in 25 g“ nicht unmittelbar greift, und der Hersteller nicht zur Zufriedenheit seiner Behörde nachweisen kann, dass seine Produkte den Grenzwert von 100 KbE/g  während der gesamten Haltbarkeit einhalten.

Im Ausgangsverfahren entnahm eine estnische Behörde in einem Einzelhandelsgeschäft Proben bestimmter Produkte auf Basis von Lachs und Forelle. Da bei der Untersuchung der Proben Listeria monocytogenes nachgewiesen wurden, erließ die estnische Behörde die Anordnung, die Herstellung dieser Produkte anzuhalten, sämtliche Chargen zurückzurufen und die Verbraucher über diesen Rückruf zu informieren. Das betroffene Unternehmen erhob Klage auf Nichtigerklärung der behördlichen Anordnungen und machte geltend, dass die estnische Behörde nicht berechtigt gewesen sei, auf in einem Einzelhandelsgeschäft entnommene Proben den in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 vorgesehenen Grenzwert anzuwenden, nach dem in 25 g des betreffenden Lebensmittels der pathogene Keim Listeria monocytogenes nicht nachweisbar sein darf.

Das Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden estnischen Gerichts zielt auf die Frage, wie Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 auszulegen ist, wenn ein Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend im Sinne der Fußnote 5 des Sicherheitskriteriums nachweisen kann, dass seine Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KbE/g nicht überschreiten, und die untersuchte Lebensmittelprobe im Einzelhandel entnommen wurde.

Der EuGH stellt fest, dass eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens, wo ein Lebensmittel, für das der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass der Grenzwert von 100 KbE/g während der gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschritten wird, bereits in den Verkehr gebracht wurde, von den genannten Bestimmungen nicht erfasst ist.

Nach Auffassung des Gerichtshofs ist für die betreffenden Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, mit Blick auf den Nachweis von Listeria monocytogenes auch der Grenzwert „0 in 25 g“ nicht anwendbar, da diese nicht mehr der „unmittelbaren Kontrolle“ des Herstellers unterliegen.

Der Gerichtshof fordert, dass in einem solchen Fall der Hersteller zunächst davon absehen muss, diese Erzeugnisse weiter in den Verkehr zu bringen.

Darüber hinaus weist der EuGH darauf hin, dass die Verordnung Nr. 2073/2005 zum Ziel hat, die Sicherheit der Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer, aber auch ein hohes Schutzniveau der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten. Zu diesem Zweck belasse Art. 1 der Verordnung der zuständigen Behörde ein weites Ermessen, um intensivere Lebensmittelkontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der in dieser Verordnung festgelegten Regeln und Kriterien durchzuführen (vgl. auch das Urteil vom 12. September 2019, A u. a., C-347/17, EU:C:2019:720, Rn. 69). Zwar lege die Verordnung Nr. 2073/2005 die mikrobiologischen Kriterien fest, die Lebensmittel auf allen Stufen der Lebensmittelkette einhalten müssen, doch enthalte sie keine Vorschriften über die Maßnahmen, die die zuständige Behörde ergreifen kann, nachdem Lebensmittel unter Verstoß gegen diese Kriterien in den Verkehr gebracht wurden.

In diesem Kontext ist nach Auffassung des EuGH die Verordnung Nr. 178/2002 heranzuziehen, deren Art. 14 Abs. 8 den zuständigen nationalen Behörden die Befugnis einräumt, „geeignete Maßnahmen“ zu treffen, um Beschränkungen für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln zu verfügen oder deren Rücknahme vom Markt zu verlangen, wenn, obwohl sie den für sie geltenden spezifischen unionsrechtlichen Bestimmungen entsprechen, nach Ansicht der Behörden objektiv der begründete Verdacht besteht, dass diese Lebensmittel nicht sicher sind. Diese Bestimmung sei angesichts der Rolle, die sie für das Erreichen eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen spielt, weit auszulegen.

Somit kann nach Auffassung des EuGH die Anwendung des Grenzwertes „0 in 25 g“ auf Lebensmittel, die in den Verkehr gebracht wurden, eine „geeignete Maßnahme“ im Sinne von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 178/2002 darstellen, wenn der Hersteller nicht zur Zufriedenheit der zuständigen Behörde nachweisen kann, dass seine Produkte während der gesamten Haltbarkeit den Grenzwert von 100 KbE/g nicht überschreiten.

Im Ergebnis wurden also die weitreichenden Anordnungen der Behörde vom EuGH bestätigt, und zwar nicht in unmittelbarer Anwendung des Grenzwertes „0 in 25 g“, sondern in mittelbarer Anwendung in Verbindung mit dem allgemeinen Lebensmittelsicherheitsrecht.

Das Urteil des EuGH ist abrufbar unter: hier klicken.

 

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Newsletter vom:

13.07.2022

 

Redaktion:

Prof. Dr. Markus Grube

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